-08.03.2005 >>> die andere seite

Quelle: http://neon.stern.de/kat/beruf/jobtipps/1069261729/62999.html

"Leider müssen wir Ihnen mitteilen...:" Wer sind bloß diese Schweine, die andere in Zweifel und Ängste stürzen durch ihre gemeinen Bewerbungsabsagen?

Tja, wer sind sie, die Typen, die den Daumen heben oder senken bei der Vergabe des Traumjobs und damit Identitätskrisen und Selbstzweifel auslösen? Und vor allem: Warum machen sie das? Alles Sadisten?

Nun also: Ich bin einer von ihnen. Schon mein erster Job brachte mich in Situationen, in denen ich die kreative Qualität von Grafikern und Textern bewerten und dann - reichlich Absagen verteilen durfte. Mein zweiter Job warf mich erst recht ins Herz der Finsternis, denn dort wurde das Anstellen von Leuten sogar zu meinem Hauptberuf. Auch derzeit suche ich wieder nach Leuten, und das einzige, was sich gebessert hat, ist, daß ich die Absagen jetzt nicht mehr selber schreiben muß. Ich schätze, in den letzten 6 Jahren bis zu 200 Bewerbungsmappen gelesen und Bewerbungsgespräche geführt zu haben - um am Ende 80% der Kandidaten abzusagen. Ich Schwein.

Aber warum? Ein paar Antworten sind klar: Manchmal gibt es nun mal mehr Bewerbungen, als Stellen da sind, und da muß halt irgendjemand den Kürzeren ziehen. Aber oft genug suchte ich monatelang nach geeigneten Kandidaten und verfaßte trotzdem Absage nach Absage. Wie das sein kann? In Deutschland mit seinen Millionen Arbeitslosen? Nun: Wäre ich wirklich ein Sadist, hätte ich schon längst eine Galerie mit dem Namen "Verpeilt & Unverständlich: Bewerbungs-Lowlights aus der Medienbranche" ins Internet gestellt. Gut und gern drei Viertel aller Bewerbungen, die ich je sah, wiesen teils erschütternde Mängel auf bei so fundamentalen Dingen wie Rechtschreibung, verständliche Formulierung und optische Aufmachung. Weitere zehn Prozent waren gut, aber nicht so gut, wie sie hätten sein können. Und an dieser Stelle kann ich die Eingangsfrage nur zurückgeben: Wer, wer seid ihr, die ihr etwas nicht völlig Nebensächliches wie eine bezahlte Anstellung sucht und nicht in der Lage seid, auch nur ein einziges Komma in euren Anschreiben richtig zu setzen? Ihr, deren Lebensläufe übelst fehlformatiert sind, obwohl ihr euch "perfekte Kenntnisse von MS Office" zuschreibt? Ihr, die ihr euch "Englisch: sehr gut" attestiert und dann in drei Zeilen englischem Text 5 Anfängerfehler macht? Was mich immer besonders irritiert: Ist euch die ganze Sache so wenig wert, daß ihr das Resultat eurer Bemühungen nicht einmal irgendjemandem zur Korrekturlesung vorlegen zu müssen glaubt? WG-Mitbewohner, Mutter, Freundin?

Hinzu kamen über die Jahre die eigenartigsten Einlassungen von Bewerbern, die die erste Hürde genommen und mir nun vis a vis im Interview gegenübersaßen. Ganz erbarmenswert war vor einigen Wochen die Antwort einer Praktikums-Bewerberin auf meine Frage, weswegen sie zwar Publizistik studiert hätte, nun aber nicht Journalistin werden wolle. Sie - übrigens mit einem Abiturschnitt von 1,2 -, treuherzig: Sie hätte gehört, da müsse man so viel arbeiten. Außerdem würde man nicht mit Sicherheit übernommen. Und hätte unregelmäßige Arbeitszeiten, auch länger als 8 Stunden am Tag. Und unregelmäßige Einkünfte. Und auf Kommando kreativ sein, nein, das läge ihr auch nicht.

Es gab Zeiten, vor einigen Jahren, da war ich so verzweifelt über das, was mir täglich auf oder vor den Schreibtisch flatterte (Kettenraucher; zerlumpt Gekleidete; nach Schweiß Dünstende), daß ich dachte: Es reicht doch schon, kein Analphabet und normal nett und vernünftig zu sein, um einen Job zu bekommen! Sind die normal Netten und Vernünftigen hinter meinem Rücken ausgestorben?

Heute denke ich: Bitte tut euch selber einen Gefallen und ARBEITET an euren Bewerbungen. Nur ein klein bißchen, bitte, bitte. Überwindet euren Stolz, auch wenn ihr Klassenbeste oder Hochschulabsolventen seid, und legt eure Unterlagen Freunden oder sogar Profis vor - Bewerbungscoachings gibt es doch an jeder Ecke. Macht mal ein Test-Job Interview. Zum Dank dafür verspreche ich euch, daß ich gute, interessante Bewerbungen, die aber auf meine Stellen nicht passen, an befreundete Unternehmen sogar weiterleite!

Ist das ein Deal?

...und etwas später in der Forumsdiskussion:

- Da wären einmal die pro-forma-Bewerbungen für das Arbeitsamt: Handgeschrieben auf kariertem Umweltpapier mit fettigem Fingerabdruck mittig oben ist kaum noch zu schlagen...

- Kritisches Gegenlesen ist Gold wert. Wenn ich da an die Bewerbungen denke, in denen Minderwertigkeitsgefühle und persönliche Schwächen geradezu zwischen den Zeilen hervorspringen... au weia.

- Wären Bewerbungsfotos repräsentativ für die Gesamtbevölkerung Deutschlands, würde ich das Land fluchtartig verlassen. So vielen grießgrämigen, grimmigen und zickigen Gesichtern begegnet man im echten Leben zum Glück nicht. Ich hatte zwischenzeitlich schon die Theorie entwickelt, es könne sich um eine eigene Bevölkerungsgruppe handeln, die in Passfoto-Automaten lebt.

Auch Sprachkenntnisse sind keineswegs so weit verbreitet, wie man annehmen könnte. Auf die Ausschreibung für einen zweisprachigen Job schienen etwa acht Personen nach Papierlage qualifiziert zu sein.
Die Hälfte (!!) dieser vermeintlichen Sprachgenies weigerte sich dann allerdings im Vorstellungsgespräch, mit mir ein paar Sätze auf Englisch zu wechseln. Auch auf mehrfaches, ganz freundliches Nachfragen. Nix zu machen.
Ohne Worte...

Auch das Interesse, wirklich einen Schlag reinzuhauen, scheint insgesamt eher spärlich gesäht. Wenn ich von arbeitslosen Bekannten höre, daß sie am liebsten nur halbtags arbeiten wollen und am Wochenende schon mal gar nicht, packt mich das Grausen.
Ich bin ja momentan leider selbst öffentlich-rechtlich, aber dass man auch am Wochenende und im Notfall auch im Urlaub die Kollegen nicht sitzen lässt, halte ich für selbstverständlich. Deswegen muß man sich ja nicht gleich ausnehmen lassen wie die sprichwörtliche Weihnachtsgans. Geben und nehmen sollte schon sein...

Ich verstehe auch gar nicht, warum so viele Leute unbedingt in Konzernen arbeiten wollen. Bei manchen dieser Läden würde ich noch nicht mal tot über dem Zaun hängen wollen.

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